In Teilen der Umweltbewegung ist es beliebt, die „Lebensstilfrage“ aufzurufen. Auch in Abgrenzung von einem Propheten der ökologischen Industriepolitik wie Sigmar Gabriel wird sie z.B. von Renate Künast in der ZEIT thematisiert. Sehr massiv wurden Ratschläge zum klimafreundlichen Lebensstil auch bei Live Earth verbreitet. Wir sollen uns z.B. verpflichten, vier Glühbirnen gegen Energiesparlampen auszuwechseln, und ein- oder mehrmals pro Woche per öffentlichem Verkehr oder Fahrgemeinschaft zur Arbeit zu fahren.
Derlei gute Ratschläge verteilt auch die Klimakampagne der BILD-Zeitung mit den Umweltverbänden WWF, BUND und Greenpeace.
Solche Klimaschutztipps sind m.E. ein zweischneidiges Schwert. Denn sie verlagern tendenziell die Verantwortung für Klimaschutz auf den Einzelnen als Verbraucher.
Ihre Beliebtheit geht auf ein tiefes Bedürfnis zurück: Die globale Natur des Klimakrise, die Komplexität des Themas und die Ferne der klimarelevanten Entscheidungen vom einzelnen Bürger verursacht tiefe Ohnmachtserfahrungen. Sie führen beim Einzelnen oft zu Resignation oder Verdrängung. Die Veränderung des Lebensstils bietet hingegen eine jedem einzelnen zugängliche, einfache Handlungsmöglichkeit. Man kann etwas tun! Das ist psychologisch entlastend und stabilisierend angesichts einer oft als überwältigend empfundenen Bedrohung.
Und doch verschiebt dies die Ohnmacht nur. Was mache ich denn, wenn ich all meine Glühbirnen ausgewechselt habe? Wenn ich mit der S-Bahn zur Arbeit fahre und auf der parallel laufenden Autobahn sehe, wie die Raserei unverändert weitergeht und ich mit meinem Lebensstilwandel nur dazu beigetragen habe, dass für die übrigen es noch ein wenig flotter vorwärtsgeht?
Für mich gibt es keinen Zweifel, dass der Klimaschutz einen erheblichen Wandel unserer Lebensstile nach sich ziehen wird. Aber diesen Wandel wird es in der Breite erst geben, wenn die uns umgebenden Infrastrukturen, die Institutionen im weitesten Sinne, die Signale ökonomischer und nichtökonomischer Art, die wir empfangen, verändert werden. Und diese Veränderung ist Politik.
Was ich vom einzelnen erwarte und verlange, ist die Bereitschaft eine solche Politik zu unterstützen, ja einzufordern – auch wenn sie am Ende eine Veränderung des Lebensstils nach sich ziehen wird.
Ich erwarte nicht von jeder und jedem, dass er/sie morgen sein Auto verkauft und nur noch Fahrrad oder ÖPNV fährt. Aber ich erwarte von jeder & jedem, dass er/sie eine Politik von Strassenbenutzungsgebühren, Tempolimits, progressiv verschärften Emissionsgrenzwerten und des Ausbaus von Fahrrad- und ÖPNV-Infrastruktur einfordert oder zumindest akzeptiert.
Ich erwarte nicht von jedem & jeder, dass er/sie in die Bahn steigt, wenn die Alternative ein Flug zu einem Bruchteil der Kosten und einem Bruchteil des Zeitaufwands ist. Aber ich erwarte von jedem & jeder, eine Politik zu unterstützen, die die absurde Subventionierung des Fliegens beendet, auch wenn das am Ende das Fliegen so teuer macht, dass ich es mir nicht mehr leisten kann.
Unser Lebensstil hat sich in den vergangenen 20 Jahren massiv geändert, im ökologisch Guten wie im Schlechten: Heute fliegen wir viel mehr, heute essen wir Lebensmittel die von weit her kommen, heute benutzen wir selbstverständlich Internet und Handy, heute verbrauchen wir deutlich mehr Ökostrom (dank EEG). Das ist Ergebnis technologischer Entwicklungen und politischer und ökonomischer Veränderungen, nicht der bewussten moralischen Entscheidungen der Einzelnen.
Unser Lebensstil muss und wird sich in den kommenden Jahrzehnten drastisch ändern. Nicht als das Ergebnis von Maßhalteappellen, und sei es über die BILD-Zeitung und Live Earth. Sondern als Ergebnis von guter Politik. Und die bekommen wir nur, wenn wir als Bürger von der Politik einfordern: Handelt jetzt – auch wenn uns das manche liebgewordene Gewohnheit verändert!
Weiterlesen: Eine interessante Reflektion zum Fliegen im Leben eines Umweltaktivisten, in Daniel Mittlers Blog.