Wo steht der Rio+20-Prozess knapp zwei Wochen vor dem Erdgipfel?

Wer immer schon mal wissen wollte, wie sich unsere jeweiligen Regierungen die Zukunft des Planeten vorstellen und in welchen Punkten sie sich einig sind und in welchen nicht, dem empfehle ich wärmstens die Lektüre des neuen Entwurfs der Abschlusserklärung der Rio2012-Konferenz, die seit dem 2. Juni vorliegt.  [Wer sich jedoch fragt, wie wir die drängensden Probleme der Welt – Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Armut, Hunger usw. – lösen können, der sollte sich lieber woanders umschauen. Da wird man hier eher nicht fündig.]

Wo stehen wir im Prozess? Im Januar wurde der erste Entwurf des Abschlussdokuments, der sog. Zero Draft, veröffentlicht, stolze 19 Seiten lang (den Inhalt habe ich hier kritisiert). Dieser wurde dann im Januar und März verhandelt und auf über 200 Seiten aufgebläht. Im Mai haben die Delegierten und der UN Generalsekretär dann festgestellt, dass sie so niemals bis Rio fertig werden. Daraufhin wurde eine weitere Verhandlungsrunde einberufen und ein neuer Entwurf von ca. 80-Seiten präsentiert. Diesen wiederum haben also die Regierungsvertreter/innen vom 29. Mai bis 2. Juni in New York diskutiert und nun liegt die neue Fassung vor, um die es hier nun geht.

Zur Erinnerung: Es gibt drei größere Themenkomplexe (auch wenn meine Einteilung nicht ganz genau dem offiziellem Dokument und Verhandlungsprozess entspricht). Dazu versuche ich kurz zu skizzieren, worin sich die Regierungen einig sind und worin nicht. Das ist im übrigen auch gar nicht schwer zu verstehen. Denn der aktuelle Entwurf vermerkt praktischerweise hinter jedem Satz oder Paragraphen, wer diesen jeweils ergänzen, verändern oder löschen will.

Here we go: die Welt vor Rio 2012…

1. Thema: Grüne Ökonomie / Green Economy:

Einigkeit: Wir brauchen irgend eine Art von Transformation unserer Wirtschaft, müssen Emissionen einsparen und ressourceneffizienter wirtschaften. Aber das Wie sollte in jedem Fall erstens national bestimmt werden, zweitens freiwillig erfolgen und drittens wachstumskompatibel sein.

Konflikte:

Allein über den Titel des Kapitels herrscht Uneinigkeit. Geht es nur um Grüne Ökonomie oder um nachhaltige Entwicklung oder um Armutsbekämpfung? Da erscheint es im Nachhinein fast als Wunder, dass es das Thema per Beschluss in der Generalversammlung vor über 2 Jahren überhaupt auf die Agenda geschafft hat. Die USA, EU und andere Industrieländer wollen konsequent alle Paragraphen und Sätze löschen, in denen es um einen Lebensstilwandel hin zu nachhaltigen Produktions- und Konsummustern geht. Dass der amerikanische Way of Life nicht verhandelbar sei, ist ja auch wirklich nichts Neues – höchstens vielleicht enttäuschend, dass ein Obama das ähnlich sieht wie ein Busch.

Die USA denken außerdem, dass Menschenrechte keinen verbindlichen Rahmen für die Grüne Ökonomie darstellen. Das Menschenrecht auf Nahrung wollen sie im Text komplett streichen. (An dieser Stelle möchte ich kurz an den Appell der UN Sonderberichterstatter vor einigen Wochen erinnern.)

Ein wenig Streit gibt es über die Frage der Finanzierung, also die Rolle des Privatsektors versus öffentlicher Finanzierung (obwohl die wichtige Rolle von Public Private Partnerships letztlich wenig umstritten ist) auf der einen Seite und die, ob die Industrieländer in Rio neue Zusagen machen sollen (gar über einen neuen Fonds, was die Entwicklungsländer verständlicherweise fordern – obwohl sie wissen, dass keine der bisher gemachten Versprechen auch nur ansatzweise eingehalten wurde).

Ein weiterer Streitpunkt ist das Thema Klimaschutz: wollen wir in Rio noch einmal verkünden, dass wir die globale Erwärmung auf 2 °C (oder gar 1,5 °C) über vorindustriellem Niveau halten wollen, wenn wir doch keinerlei Maßnahmen ergreifen, um dies auch umzusetzen und die Ziele, auf die wir uns beziehen (vor allem die Ziele der Sustainable Energy for All Initiative) geradezu lächerlich niedrig sind? Und wie gehen wir damit um, dass z.B. die USA die Referenz zur historischen Verantwortung auf dem Text streichen will und Russland, Australien, Neuseeland und andere (zu deren aktueller Rolle im UNFCCC-Prozess siehe hier), aber auch die G77 Text zum Thema Abbau schädlicher fossiler Subventionen am liebsten verwässern oder komplett streichen würden?

[Ich fasse zusammen: Menschenrechte, Klimaschutz und Lebensstilwandel: Delete! Vorfahrt für freiwillige Initiativen und den Privatsektor.]

 2. Thema: Institutionelle Reform (ECOSOC, CSD und UNEP):

Hier haben sich seit der letzten Verhandlungsrunde keine großartigen Veränderungen ergeben.

Einigkeit: Wir brauchen dringend eine Reform, das jetzige System ist nicht adäquat. Wir müssen UNEP irgendwie aufwerten und die CSD reformieren.

Konflikte: Die Umwandlung von UNEP in eine Specialised Agency ist immer noch nicht vom Tisch – wenn auch praktisch in weiter Ferne. Viel wahrscheinlicher ist eine Aufwertung des Umweltprogramms mit universeller Mitgliedschaft und geringer finanzieller Stärkung. Die große Sorge vieler Entwicklungsländer – aber nicht aller – und der USA (Russland, Japan usw.) ist wohl, dass sie sich mit einer starken UNEP oder UNEO eine Art Öko-Kontrolleur ins Haus holen und damit ihre Optionen auf fossiles Wachstum einschränken.

3. Thema: Globale Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs):

Die standen am Anfang gar nicht zur Debatte, wurden dann aber von Guatemala, Kolumbien und Peru eingebracht. Inzwischen haben sich nicht nur Hinz und Kunz (von verschiedenen UN Institutionen über Weltbank, Regierungen, NGOs und Wissenschaft) intensiv mit Inhalten und Befasstheit solcher SDGs auseinandergesetzt, dass wir davon ausgehen können, dass es in Rio eine Entscheidung geben wird, einen Prozess zur Vereinbarung von SDGs auf den Weg zu bringen.

Einigkeit: Die MDGs sind ein schöner Prozess, auch wenn wir nicht alle überall erreichen werden. Die SDGs sind ein schöne Idee zur Ergänzung der MDGs. Wir könnten uns einen Prozess zur Vereinbarung solcher Ziele vorstellen. Aber denkt bl0ß nicht, dass wir uns von den Vereinten Nationen tatsächlich Ziele vorschreiben lassen, die ernsthaft unseren Konsens (siehe Thema 1) in Frage stellen und gar überprüf- oder einklagbar wären.

Konflikte: Vereinbaren wir einen Prozess oder die Ziele selber? Wenn einen Prozess: wer leitet diesen? Ban Ki-moon (der sein Team dafür schon zusammen hat) oder die Generalversammlung? Und für welche Sektoren vereinbaren wir welche Ziele?

Ob die SGDs sich letztlich als Maßstab zur Rechenschaft unserer Regierungen bei der Einhaltung ambitionierter Ziele, als reines Ablenkungsmanöver auf kleinstem gemeinsamen Nenner oder nur als Rettungsanker einer ansonsten hoffnunglosen Konferenz erweisen werden, bleibt offen.

Was heißt das nun für Rio+20?

Bei mir stellt sich bei der Lektüre nicht nur ein ganz besonderer Frust ein, sondern auch ein merkwürdiger Wunsch: Wäre die Welt doch ein bisschen weniger vorhersehbar! Es überrascht mich nicht, dass der Heilige Stuhl jegliche Referenz zur Familienplanung streichen will, dass Russland nicht weg will vom Öl und die Amerikaner ihren Lebensstil nicht ändern wollen. Mich wundert es nicht, dass eine Arbeitsgruppe zu Bergbau, die von Kanada geleitet wird, über die Verbesserung von freiwilligen Standards hinaus keine Ideen hervorbringt und die Entwicklungsländer sich zu nichts verpflichten wollen, was nicht zusätzlich finanziert ist.

Aber kommen wir tatsächlich weiter, wenn wir diese unterschiedlichen Interessen, Weltanschauungen und Glaubensbekenntnisse offen legen? Man könnte meinen, das sei immerhin ehrlicher als ein intransparenter und hochkomplexer Klimaprozess, bei dem es vornehmlich um Klimagase und letztlich aber doch im Kern um ökonomische Machtverhältnisse in der Welt geht.

So freue ich mich denn in Rio auch vor allem auf die zivilgesellschaftlichen Debatten außerhalb des offiziellen Kongresses (z.B. beim Gipfel der Völker), die hoffentlich ihren Beitrag dazu leisten werden offenzulegen, ob das, was unsere Regierungen dort angeblich in unserem Interesse vertreten auch tatsächlich die Zukunft ist, die wir wollen.

Zum Schluss noch zwei positive Überraschungen im neuen Entwurf:

Wichtig und positiv ist, dass die Option eines High Seas Biodiversity Abkommens nicht ganz vom Tisch ist. Dazu empfehle ich die Bewertung von Daniel Mittler für Greenpeace.

Die G77 haben außerdem – anscheinend sehr zum Kummer von EU und USA – mit der folgenden Idee eingebracht: Die Green Economy soll „effectively avoid financialisation of natural resources that can result in the excessive concentration of financial resources in developed countries“ (52, l). Zu diesem Thema empfehle ich das aktuelle BoellThema Heft: „Grüne Ökonomie – was uns die Natur wert ist„.

 


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