Ein Gastbeitrag von Julia Behrens (Heinrich-Böll-Stiftung).
Der Artikel erschien zuerst hier: Platz für Perspektiven
Ende April wurden in Zentralvietnam 70 t toter Fisch an die Küste gespült. Was die Ursache dafür ist, konnte bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht geklärt werden. Dieses Ereignis zusammen mit fehlenden Informationen, wie viel Gefahr für die lokale Bevölkerung hinter diesem Vorfall steckt, führte in ganz Vietnam zu Protesten, die im autoritär regierten Land unter der Kommunistischen Partei selten vorkommen. Es entstand in den vergangene Wochen eine Welle von sozial-ökologischen Aktionen, die die Umweltthematik im Land politisierte und eine neue soziale Bewegung schaffen könnte.
Die Nachricht um die toten Fische verbreitete sich im Land nicht allein. Mit ihr einher gingen Meldungen aus der Hauptstadt Hanoi im Norden des Landes, dass eine mögliche giftige Belastung der Atemluft bestehe und Atemschutzmasken zu tragen seien. Der Süden Vietnams ist, wie auch Kambodscha und Thailand, von einer extremen Dürre betroffen, die zu Ernteausfällen und zu einer Migrationsbewegung von Bauern und Bäuerinnen in die Industriegebiete rund um Ho Chi Minh Stadt führte. Doch vor allem zeigte sich das Fischsterben und die ungeklärten Ursachen davon als Funken und Auslöser der Proteste in den letzten Wochen. In Zentralvietnam schafften Menschen tote Fische auf die wichtigste Verkehrsader des Landes, die Verbindungsstraße zwischen Hanoi und Ho Chi Minh Stadt, und blockierten damit über Stunden den Verkehr. In Hanoi und Ho Chi Minh Stadt kam es zu mehreren Demonstrationen, die von der Polizei aufgelöst wurden. Auch Kunstaktionen entstanden als Protestform. In Hanoi wurden Atemmasken mit aufgedruckten toten Fischen verteilt, in der alten Kaiserstadt Hue lief ein Künstler von Kopf bis Fuß angemalt und mit einem toten Fisch um Mund mit Musikbegleitung durch die Stadt. Er wurde aufgrund von Störung öffentlicher Ruhe festgenommen, ist inzwischen aber wieder frei.
Die Auflösung der Demonstrationen und die Festnahmen des Künstlers ist die Anwendung von repressiver Politik, die die sozialistische Regierung verfolgt seit sie an der Macht ist. In den 50er Jahren wurde die Nhan Van Giai Pham Affäre, in der Zeitungen verboten und Autoren verhaftet wurden, unter den Literaturschaffenden zum Symbol der fehlenden Meinungs- und Pressefreiheit. Kunst- und Literaturschaffende, die Romane verfassten, die nicht die sozialitische Politik wiedergab, werden bis heute bedroht, verhaftet oder ihre Bücher werden verboten. International wurden diese Vorgehensweisen vor allem durch Verhaftungen von Bloggern bekannt, treffen aber auch im Ausland weniger bekannte Kunstkollektive und Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Ein Kunstkollektiv in Hanoi, das inoffiziell arbeitete, also keine Genehmigungen für Ausstellungen und Performances beantragte, wurde mehrmals von der Polizei geschlossen. Inzwischen wird versucht, auf offiziellem Wege Genehmigungen für unpolitische Veranstaltungen zu beantragen, die durch subversive politische Referenzen jedoch trotzdem eine Kritik am System ermöglichen.
Dieser Kreis der Kunstschaffenden ist jedoch klein, die breite Öffentlichkeit erreicht er nicht. Ein Thema, das zivilgesellschaftliche Proteste unter Beteiligung heterogener sozialer Gruppen in den letzten fünf Jahren hervorrief, war das Verhältnis zu China. Da China in der vietnamesischen Narrative Vietnam dreimal überfallen und zweimal besetzt hat, ist die Abneigung gegen den Nachbarn im Norden sehr groß und die Furcht vor einem 4. Einmarsch chinesischer Truppen, diesmal über die Spratley- und Paracelsusinseln in der vietnamesischen Ostsee (vietnamesischer Name) bzw. im südchinesischen Meer (international gebräuchlicher Name), führte in der Vergangenheit zu Demonstrationen im Land und in Diasporen. Demonstrationen im Land wurden polizeilich aufgelöst.
Nun kommt jedoch ein neues Thema hinzu, das es schafft, Menschen zu Protesten zu mobilisieren. Eine Künstlerin aus Hanoi bezeichnete den Fall mit den Fischen als „Wendepunkt“. Ab jetzt würde sich sozialer Protest um Umweltprobleme organisieren. Es ist ein Wendepunkt, da es überhaupt breite und mittlerweile wochenlang anhaltende soziale Proteste gibt. Aber auch, weil das Thema Umwelt bisher wenig mit politischen Spannungen aufgeladen war. Umweltpolitik war seit den 90er Jahren ein wichtiges Thema für die Kommunistische Partei. Es gibt Umweltgesetze, die vereinzelt zu Fabrikschließungen führten, nationale Aktionspläne gegen den Klimawandel und Aufträge für die staatlichen Forschungsinstitutionen, Adaptionsstrategien für den Klimawandel zu entwickeln. Vietnam wird eines der am stärksten betroffenen Länder vom Klimawandel sein und läuft Gefahr, bis zu 35% seiner Landfläche an den Meeresspiegelanstieg zu verlieren. Der Meeresspiegelanstieg wird außerdem zu einer Versalzung des Mekongdeltas führen, der Reiskammer des Landes, so dass die Wirtschaft des Landes mit Konsequenzen durch den Klimawandel zu rechnen hat und Strategien entwickeln muss, mit diesen Konsequenzen umzugehen. Unter anderem über eine Umstrukturierung der Nahrungsmittelwirtschaft von Reisanbau für den Verbrauch im eigenen Land hinzu Aquakulturen für Exporte nach Europe. Im Bereich der Energiewirtschaft bekam Vietnam Anfang diesen Jahres Lob von Greenpeace und anderen internationalen Organisationen, da das Ministerium für Ressourcen und Umwelt in Folge der Klimaverhandlungen in Paris den Ausstieg aus der Kohle und Investitionen in erneuerbare Energien ankündigte.
Neben staatlichen Einrichtungen sind im Land über 100 nicht-staatliche Organisationen zum Thema Umwelt aktiv. Diese sind sowohl lokale als auch internationale Organisationen, die in unterschiedlichen Bereichen von Küstenschutz über urbane Wasserqualität bis zur Armutsbekämpfung in der Landwirtschaft arbeiten. Für internationale Organisationen waren trotz strenger Auflagen Kooperationen in diesem Bereich weniger sensibel, als zum Beispiel im Bereich der Medienarbeit. Das Umweltthema wurde von diesen Organisationen weitgehend unpolitisch bedient, was bedeutet, dass die Sorge um die Umwelt als gemeinsame Sorge der Regierung und der Organisationen dargestellt wurde und das gemeinsame Ziel eines „grünen, sauberen, schönen Landes“ (ein oft zu lesender Slogan auf Propagandaplakaten) etwaige Konflikte auf dem Weg zu diesem Ziel ausklammerte. Gemeinsames Reispflanzen, gemeinsame Reinigungsaktionen von Seen in Hanoi, all das sollte zur einer gesunden Umwelt und pflichtbewussten Menschen führen.
Hier jedoch kommen die Fische ins Spiel, und das Nichtwissen darum, was ihr Massensterben verursacht hat. Denn nun wird sich nicht nur um Umweltverschmutzung gesorgt. Sondern auch um Fragen wie Transparenz, das Recht auf Informationen und das Recht der Bevölkerung, diese einzufordern. Auf den Demonstrationen wird Umweltverschmutzung in Verbindung mit Korruption genbracht und der Frage, wieso Richtlinien nicht eingehalten werden. Außerdem wird der Regierung vorgeworfen, Informationen zurück zu halten, die die Gesundheit der Menschen gefährden. Offiziellen Aussagen, dass Badengehen nicht gefährlich sei und man weiter Meeresfrüchte essen könne, werden in Frage gestellt. Vor allem auf Facebook, das in Vietnam zwar verboten, aber trotzdem zugänglich ist und auch von Regierungsvertretern genutzt wird, entwickeln sich Debatten zwischen Seiten der Regierung und Usern, die auf ihre Fragen keine Antworten finden. Die Auflösungen der Demonstrationen befeuern das Unbehagen noch mehr.
Die Fronten zwischen Regierungsanhängern und Zivilgesellschaft sind nicht klar gezogen, sind vielschichtig und so werden Debatten immer größer, rufen Videokommentare und Cartoons als Beiträge hervor. Auch innergesellschaftlich regt sich viel, da in Diskussionen zwischen Usern die Frage aufkommt, in wie weit die Bevölkerung selbst schuld an der Verschmutzung sei. Bilder kursieren, auf denen ein Strand nach einem langen freien Wochenende und einem Tourismusansturm zu sehen ist – auf dem Bild ist kaum Sand, dafür aber Plastikmüll zu sehen
Eine breite Diskussion zwischen diversen Akteurinnen und Akteuren, Bewegung und Reibungspunkte in der Gesellschaft. Eigentlich sind dies Dinge, die die Regierung versucht zu unterdrücken. Momentan wird von einer Gruppe aus internationalen Forscherinnen und Forschern nach der Ursache des Fischsterbens gesucht. Es wird sich zeigen, welche Konsequenzen die 70 t Fisch politisch langfristig haben werden, wenn die Ursache und der Verursacher festgestellt wurden. Falls eine ausländische Firma als Verursacher festgestellt wird (im Moment wird die taiwanesische Formosa-Fabrik verdächtig, giftige Abwässer ins Meer geleitet zu haben), könnte sich die Wut wie in den Anti-China-Protesten nach außen richten, die Kraft auf innenpolitische Veränderungen zu drängen könnte sich in nationalistischer Rhetorik verlieren. Doch auch in jenem Fall hat die Diskussion um Umwelt einen neuen Raum im Bewusstsein von vielen, vor allem jungen, Menschen in Vietnam eingenommen und wurde politisiert. Dies kann ein Anknüpfungspunkt für lokale Gruppen sein, eine sozial-ökologische Transformation voranzutreiben. Wenn auch eine leise, in der sich vereinzelte Organisationen mit der lokalen Bevölkerung vernetzen, um an den Organen der Partei vorbei lokale Strategien zum Schutz des Lebensraums in Verbindung mit der Verbesserung der Lebenssituation der Menschen zu erreichen.
Zum Weiterlesen:
http://tuoitrenews.vn/society/34416/fish-die-en-masse-from-unknown-cause-in-central-vietnam
http://trandaiquang.org/bieu-tinh-o-quang-binh-can-su-binh-tam-va-tinh-tao.html
http://www.reuters.com/article/us-vietnam-protests-idUSKCN0XZ053
http://www.dw.com/de/vieles-spricht-f%C3%BCr-eine-vergiftung/a-19229039
http://thediplomat.com/2016/05/vietnams-new-leadership-tested-by-environment-protests/