Die Risiken der Klimaneutralität: weshalb die derzeitigen Umsetzungsversuche den Prinzipien der Klimagerechtigkeit widersprechen

Mit zunehmendem Druck auf die Politik u.a. durch die Fridays-for-Future-Bewegungen, werden die angestrebten Klimaschutzziele deutlich ambitionierter. So verabschiedeten einige Kommunalpolitiker*innen im Rahmen der Klimanotstände das Ziel der Klimaneutralität bis 2030 oder 2035. Diese „Klimaneutralität“ lässt sich aber in der Regel in einer Kommune aufgrund der kurzen zeitlichen Dimension nicht allein durch CO2-Minderung erreichen. Daher werden Ausgleichsverrechnungen (Ökostrom, Kompensation, CO2-Senken…) hinzugenommen, um die „Klimaneutralität“ bilanziell zu erreichen. Diese stehen einer CO2-Reduktion vor Ort entgegen. Die Forderung nach Klimaneutralität bzw. Netto-Null-Emissionen unterstützt zudem den Ansatz des CO2-Reduktionismus, der den Prinzipien der Klimagerechtigkeit entgegensteht.

Ein Gastbeitrag von Eva Rechsteiner*

Die Diskussion, inwiefern Corona den Klimaschutz beeinflusst, nimmt gerade erst Fahrt auf. Vor diesem Hintergrund überarbeiten einige Fridays-for-Future-Ortsgruppen ihre Forderungen. Die politische Klima-Druckwelle, die sich letztes Jahr durch die Städte zog, bewirkte eine Reihe von vorgezogenen Zielen. So stieg das Ziel der Klimaneutralität in die vorderste Reihe des Bewusstseins. Sowohl Extinction Rebellion als auch Fridays-for-Future fordern „Netto-Null-Emissionen“ bis 2025 bzw. 2035. Vielen scheint nicht bewusst, was diese Forderung genau beinhaltet. Die Politik und Unternehmen machen sich dies zum Vorteil. Neben Städten werden auch Unmengen an Unternehmen, Produkten und Dienstleistungen klimaneutral gerechnet.

Berechnungsgrundlage CO2-Bilanz

Bevor Städte Klimaschutz betreiben, wird zuerst eine CO2-Bilanz erstellt. Die Ergebnisse der CO2-Bilanz hängen stark davon ab, welche Methodik gewählt wurde und welche Datengrundlage verfügbar ist. Dadurch besteht die Gefahr, dass durch die Wahl einer bestimmten Methodik die CO2-Emissionen bilanziell gesenkt werden, ohne in Realität weniger geworden zu sein. Ein Beispiel ist Ökostrom. Bezieht eine Kommune Ökostrom und rechnet diesen mit einem Strom-Emissionsfaktor von null Gramm CO2 pro kWh, hat der Stromverbrauch der Kommune von einem Tag auf den anderen keine Emissionen mehr – in der CO2-Bilanz. Die tatsächliche Stromversorgung vor Ort hat sich nicht geändert.

Ausgleichsverrechnungen

Hat sich eine Kommune nun das Ziel der „Klimaneutralität“ bis 2030 gesetzt, schafft es aber nicht, diese Emissionen real vor Ort zu senken, sucht sie nach anderen Maßnahmen, um die Emissionen auf dem Papier im Sinne des Opportunitätskostenprinzips zu verrechnen. Diese Maßnahmen sind u.a. Ökostrom, Kompensation und CO2-Senken bzw. CO2-Abscheidung. Derzeit können Dienstleistungen, Herstellung von Produkten, Veranstaltungen etc. praktisch nicht emissionsfrei erreicht werden und werden nur durch die Methode der Kompensation „klimaneutral“. Auf Unternehmensebene ist dies schon Praxis. So schmücken sich die Daimler Produktionswerke in Deutschland ab 2022 mit dem Prädikat „CO2-neutral“. Bei Daimler heißt dies: es wird Wasserkraft aus Norwegen eingekauft, um den Strom klimaneutral zu bilanzieren. Die restlichen Emissionen aus der fossilen Energieerzeugung auf dem Werksgelände werden kompensiert. Garantierte positive Wirkung auf das Klima: null.

CO2-Abscheidung beschreibt Technologien, die zum Ziel haben, CO2 einzufangen und im Boden zu speichern. Die Debatten über diese Technologien werden kontrovers geführt, sind noch nicht ausgereift und mit hohen Kosten verbunden. Daher wird bereits jetzt und sicher auch künftig verstärkt auf Kompensationsmaßnahmen zurückgegriffen.

Die CO2-Kompensation ist ein marktbasiertes Instrument, mit dem der Ausstoß von CO2-Emissionen durch Reduktionsmaßnahmen oder CO2-Speicherung woanders kompensiert wird. Sie ist eingebettet in den globalen Kohlenstoffmarkt, der zum Ziel hat, die CO2-Emissionen zuerst dort zu reduzieren, wo es am kostengünstigsten ist. Es gibt zwei Arten der Kompensation: die private/freiwillige Kompensation und die Kompensation im Rahmen der Reduktionspfade im Kyoto-Protokoll bzw. im Paris Agreement, bei dem die Länder sich zu CO2-Emissionsreduktionen verpflichtet haben. Das Kyoto-Protokoll stellte drei Mechanismen bereit: den internationalen Emissionshandel, Joint Implementation Projekte und den Clean Development Mechanism. Diese Mechanismen basieren darauf, dass westliche Länder sich um den Ausgleich von Emissionen in „Entwicklungsländern“ und nicht um eine Reduzierung im eigenen Land bemühen.

Der Handel von CO2 und die damit verbundenen „offsetting“-Mechanismen werden stark kritisiert:

  • Ethisch-moralische Komponente: Diejenigen, die es sich leisten können, erkaufen sich das Recht, die Umwelt zu verschmutzen (Emissionszertifikate werden auch als Verschmutzungsrechte bezeichnet). Weil wohlhabende Menschen aus dem globalen Norden ihren Lebensstil nicht ändern wollen, müssen sich ärmere Menschen an die Maßnahmen anpassen (die vermehrt mit den Folgen des Klimawandels zu kämpfen haben).
  • Zeitliche Verzug von Kompensation: Die Effekte der Kompensation – also die CO2-Reduktion wird nicht in jenem Augenblick erreicht, in dem das Zertifikat gehandelt wird, sondern im Mittel über einen gewissen Zeitraum. Wird bspw. eine Flugreise durch das Pflanzen von Bäumen kompensiert, werden diese erst im Laufe vieler Jahre ihre Wirkung entfalten. Dabei muss sichergestellt werden, dass die Maßnahme für mindestens 100 Jahre Bestand hat (Verweildauer von CO2 in der Atmosphäre). In menschlichen Zeiträumen ist der Prozess der Nutzung fossiler Energie irreversibel.
  • Aufforstungsprojekte: Vor allem bei der Aufforstung stellt sich die Frage der Dauerhaftigkeit. Waldbrände, Dürre und Schädlinge vernichten Waldbestände. Eine Senkenwirkung ist damit immer nur temporär. Wenn der Wald zyklisch abgeholzt und wieder neu aufgeforstet wird, ist der Wert der Bilanz Null. Dazu kommt, dass Aufforstungsprojekte geopolitische Konflikte um Landnutzungsrechte verursachen und traditionelle Landrechte indigener Völker in Gefahr bringen können („landgrabbing“).
  • Finanzialisierung der Natur: Verfechter der Green Economy attestieren dem Umwelt- und Klimaschutz einen „Wettbewerbsvorteil“, wenn die Umwelt einen Geldwert bekommt. Umformuliert bedeutet dies: das Klima ist dann schützenswert, wenn der Schutz Profitzwecken dient und wir unseren Lebensstil nicht ändern müssen. Die Bepreisung von CO2 degradiert die Umwelt zu einer Ware und baut den Trend der Finanzialisierung der Natur weiter aus.
  • Zusätzlichkeit: Viele Projekte wären auch ohne die Investitionen über Kompensation umgesetzt worden; die Kompensationsmaßnahmen erfüllen also selten das Kriterium der Zusätzlichkeit. Manche Projekte wurden bereits vor Jahren umgesetzt und im Nachhinein angerechnet oder Emissionen wurden im Vorfeld künstlich nach oben getrieben. Dadurch wurde das Ausgangsszenario übertrieben hoch berechnet, so dass besonders viele Zertifikate emittiert und verkauft werden können. Eine Studie des Stockholm Environment Institute zeigte, dass Millionen Zertifikate, die vor allem aus russischen und ukrainischen Klimaschutzprojekten stammten, statt zu einer Reduktion zu einem Anstieg der globalen Treibhausgasemissionen führten.
  • Gefahr der Doppelzählung: Westliche Länder rechnen sich auch wie die Länder, in denen die Kompensationsmaßnahme erfolgte, die CO2-Reduktion an. Projekte aus dem freiwilligen Kompensationsmarkt werden dann von staatlichen Akteuren als Emissionsreduktionsmaßnahme geltend gemacht.
  • Erhalt des Status Quo: Weil marktbasierte Instrumente als Allheilmittel gesehen werden, werden z.B. strengere Gesetze nicht verabschiedet, weil sie sonst den Markt „behindern“ würden. Vor allem Großkonzerne (Fluggesellschaften, fossile Industrie, Autobahn-Betreiber…) unterstützen Kompensationsmaßnahmen, weil sie damit weiter verschmutzen können wie bisher, ohne viel bezahlen zu müssen.
  • Ablenkung: Die Möglichkeit zu kompensieren, schafft die Illusion, dass im Klimaschutz etwas getan wird. Stattdessen schafft der Kohlenstoffhandel immer erfindungsreichere Wege, Dinge als Kohlenstoffsenker zu zählen.

Einige Anbieter stellen hohe Qualitätsanforderungen an Kompensationsprojekte, so z.B. der Gold Standard durch den Ausschluss von Großprojekten, wie Staudämme, Aufforstungs- oder Industriegasprojekte, genauso die Forderung nach Zusatznutzen wie Einkommenssteigerung oder Biodiversität. Dennoch werden auch diese Standards von NGOs (Friends of the earth, climate justice now, World Rainforest Movement) als „Feigenblatt im Kohlenstoffmarkt“ kritisiert, die  eingefahrene Muster des Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchats aufrechterhalten. Zudem liegt der CO2-Preis pro eingesparte Tonne laut Umweltbundesamt auch für Projekte mit hohem Standard nur bei 2 bis 23 Euro pro Tonne. Um die tatsächlichen Umweltfolgekosten zu internalisieren, ist dies viel zu niedrig, hier empfiehlt das Umweltbundesamt 180 Euro pro Tonne.

Klimaneutralität vs. Klimagerechtigkeit?

Es gibt keine offizielle Definition des Begriffs „Klimaneutralität“. Im Grunde beinhaltet der Begriff, dass auf unser Ökosystem bezogen, netto kein CO2 und keine anderen Treibhausgase wie Methan oder Lachgas freigesetzt werden. Netto bedeutet, dass CO2-Emissionen durch die Reduktion an anderer Stelle eingespart werden. Technologien, Produkte und Aktivitäten sind klimaneutral, wenn sie keinen Einfluss auf die globale Klimaerwärmung haben.

Naturwissenschaftlich betrachtet gibt es diesen Zustand nicht – alles was wir machen, hat eine Klimawirkung. Viele der derzeitigen Produkte und Dienstleistungen, die als „klimaneutral“ angeboten werden, wirken der Klimaerwärmung nicht entgegen, sondern greifen stattdessen auf bilanzielle Methoden oder Ausgleichsmaßnahmen zurück.

Das Ziel der Klimaneutralität setzt den Fokus auf die Quantifizierung von Treibhausgasen. Alles wird gemessen und bewertet – und nur die Maßnahmen, bei denen eine direkte CO2-Einsparung gemessen werden kann, werden umgesetzt. Der reine Fokus auf den Gehalt der CO2-Emissionen in der Atmosphäre blendet andere Umweltwirkungen aus, wie der Verlust der biologischen Vielfalt, der Erosion und die Belastung fruchtbarer Böden. Maßnahmen, die durch CO2-Reduktion eine Klimaneutralität anstreben, haben oft sogar negative (Umwelt-)Auswirkungen wie folgende Beispiele veranschaulichen:

  • Einsatz von Biokraftstoffen zur CO2-Reduktion führt zu Monokulturen, der Rodung von Regenwäldern und erhöhten Lebensmittelpreisen im Globalen Süden (davon abgesehen ist die Reduzierung von CO2-Emissionen umstritten)
  • Bioenergie mit CO2-Abscheidung und Speicherung (BECCS) rechtfertigt die Überschreitung der Biokapazität und wirkt sich negativ auf Biodiversität und Landnutzugsänderungen aus
  • Bau von Staudämmen zur erneuerbaren Stromerzeugung führt zur Überflutung von unberührten Ökosystemen und der Vertreibung der lokalen Bevölkerung

Klimaneutrale Maßnahmen bauen darauf, dass Treibhausgase Priorität vor Biodiversität, sauberer Luft und Wasser, Lärmschutz, Gesundheit etc. haben. Andere Indikatoren wie Geschlechtergerechtigkeit und Ressourcenschonung werden zu „co-benefits“ heruntergestuft. Klimaneutralität setzt auf end-of-pipe Techniken, bekämpft nur die Symptome und ist damit ein begrenzter Ansatz, um ein viel größeres Problem zu erfassen. Die unter dem Zeichen der Klimaneutralität vollzogenen Tauschgeschäfte ebnen hinterrücks den Weg für neue Ressourcenplünderungen in Ländern des Globalen Südens.

Niemand kann etwas dagegen haben, wenn sich ein Unternehmen oder eine Kommune das Ziel der „Klimaneutralität“ zuschreibt. Es ist jedoch höchst fraglich, wenn dieses Ziel durch kostengünstige und im Globalen Süden umgesetzte Maßnahmen erreicht werden soll. Eine derartige Umsetzung ist für den Klimaschutz kontraproduktiv, da dadurch ein Kurs der radikalen CO2-Minderung vermieden wird.

Unter dem Begriff Klimaneutralität verstecken sich folglich Maßnahmen, die den Prinzipien der Klimagerechtigkeit widersprechen. Statt sich um CO2-Reduktionen vor Ort zu bemühen, suchen die Akteure nach Kompensationsmöglichkeiten, die auf dem Rücken der Menschen im Globalen Süden ausgetragen werden.

Wie kein anderes, zeigt unser verbissener Fokus auf Kohlenstoffdioxid und die damit verbundenen negativen Folgen, dass wir uns auf Ansätzen konzentrieren müssen, die unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ändern, um Natur und Klima ganzheitlich zu schützen. Denn die Klimakrise ist komplex und besteht aus mehr als einer CO2-Bilanz. Der Fokus auf den Preis von CO2 ist ein riskanter Wegweiser für die ökologische Transformation.

Die Ziele der Klimaneutralität suggerieren, dass wir unsere imperiale Lebensweise und unseren Konsum weiter so verfolgen können, sofern wir es klimaneutral hinbekommen. Die Klimagerechtigkeitsbewegung muss reflektieren, welche Ziele sie stellen möchte. Wenn die Begriffe „Klimaneutral“ und „Netto-Null-Emissionen“ so eingesetzt werden, dass die Ziele aufgeweicht werden und harte Reduktionsmaßnahmen umgangen werden, müssen wir diese Begriffe explizit vermeiden und Kriterien aufstellen, die einen Missbrauch verhindern.

 

*Eva Rechsteiner arbeitet am Institut für Energie- und Umweltforschung in Heidelberg. Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich Kommunaler Klimaschutz. Seit einigen Jahren engagiert sie sich in der Klimagerechtigkeitsbewegung und berät Gruppen wie Fridays for Future.


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