„Net Zero“ ist nicht „Real Zero“

Mindestens inoffiziell steht die diesjährige COP26 in Glasgow unter dem Motto „Net Zero“. Täglich werden bei der COP neue Netto-Null- oder auch Klimaneutralitätszusagen von Regierungen verkündet: Darunter in den letzten Tagen China, Indien, Brasilien, Vietnam, Thailand, Nigeria und Kolumbien. Andere, wie die USA, die EU und auch Deutschland mit seinem Klimaschutzgesetz, hatten sich schon im Verlauf der letzten Monate und Jahre solche Netto-Null-Emissionsziele gesetzt. Plötzlich scheinen alle willens, die Klimakrise aktiv anzugehen. Sogar aus der Öl- und Gasindustrie gibt es Versprechen, „net zero“ zu erreichen (natürlich nicht, indem aufgehört werden würde, Fossile aus dem Boden zu holen – aber dazu siehe weiter unten).

„Netto-Null“ steht hier für „Netto-Null“-Treibhausgasemissionen. Während das auf den ersten Blick sinnvoll und ambitioniert klingt, wächst die Kritik in der internationalen Zivilgesellschaft und Klimagerechtigkeitsbewegung stark – und das zurecht. Denn: Netto-Null ist nicht tatsächlich null Emissionen, und in den meisten Fällen sogar sehr weit davon entfernt.

Am Montag, zum Auftakt der COP26, haben mehr als 700 internationale Organisationen einen globalen Aufruf veröffentlicht: Real Solutions, Not „Net Zero“ – A Global Call for Climate Action (deutsche Fassung hier)

Pressemitteilung hier: Over 700 Civil Society Groups Demand Real Climate Solutions Not Net-Zero Promises — Real Solutions, Not ‚Net Zero‘

Unser ebenfalls diese Woche erschienener Artikel bei Project Syndicate: Net Zero Is Not Zero – Maureen Santos, FASE/Brasilien und Linda Schneider, hbs.

Weitere, kürzlich erschienene Kritiken an Netto-Null:

Not Zero: How „net zero“ targets diguise climate inaction (ActionAid, Corporate Accountability, Friends of the Earth International, Demand Climate Justice, Third World Network, WhatNext?)

The Big Con: How Big Polluters are advancing a “net zero” climate agenda to delay, deceive, and deny (Corporate Accountability International, Global Forest Coalition, Friends of the Earth International)

Tightening the net: the implications of net zero climate targets for land and food equity (Oxfam)

Chasing Carbon Unicorns: The deception of carbon markets and “net zero“ (Friends of the Earth International)

350+ Groups Condemn Net-Zero Pledges as a Dangerous Distraction – Friends of the Earth (foe.org)

Auch aus der Wissenschaft gibt es kritische Töne: 10 myths about net zero targets and carbon offsetting, busted

Last but not least, ein kürzlich erschienener und viel geteiler Text von Yeb Saño, Direktor von Greenpeace Southeast Asia und früherer Klima-Verhandler der Philippinen: Why I refuse to collude with polluters in the carbon offsetting lie auf Climate Home News

 

Für den Überblick, hier sind einige der Probleme mit Netto-Null noch einmal kurz zusammengefasst:

  1. „Netto-Null“-Versprechen mehrere Jahrzehnte in der Zukunft – z.B. für 2045, 2050, oder noch später – verschleiern, dass die dringend notwendigen, drastischen Emissionsreduktionen, die unmittelbar passieren müssen, leicht auf die lange Bank geschoben werden können. Netto-Null in 2045 oder 2050 ist zudem für die reichen, industrialisierten Staaten des globalen Nordens, die die größte Verantwortung für die globale Klimakrise tragen und die seit Jahrzehnten um die Notwendigkeit, aus den Fossilen auszusteigen, wissen, viel zu spät.
  2. Häufig fehlen bei diesen Netto-Null-Zusagen zur Mitte des Jahrhunderts noch dazu die verbindlichen und ambitionierten Zwischenziele, etwa für 2025 und 2030. Wenn drastische Reduktionen in den nächsten Jahren nicht passieren, ist ein Netto-Null-Ziel für 2050 und die Eindämmung der Klimakrise auf 1,5 Grad oder 2 Grad Augenwischerei.
  3. „Netto-Null“ bedeutet nicht (unbedingt), dass die Emissionen tatsächlich auf Null gehen, oder überhaupt drastisch reduziert werden. Häufig setzen Netto-Null-Pläne auf Offsetting und CO2-Kompensation. Hier kommt auch der Hype rund um die Nature Based Solutions (NBS) ins Spiel – also das riesige Interesse an Wäldern und anderen Ökosystemen. Dass diese geschützt und wiederhergestellt werden müssen, ist absolut klar – nicht nur aus Perspektive der Klimakrise, sondern auch der Biodiversitätskrise –, aber eben nicht, um damit fossile Emissionen zu kompensieren.
  4. Vielfach wird im Rahmen von Netto-Null-Plänen auch auf spekulative, unerprobte Technologien gesetzt, die der Atmosphäre im großen Stil CO2 entziehen sollen – darunter Direct Air Capture (DAC), Bioenergie und Carbon Capture & Storage (BECCS) und andere Geoengineering-Technologien. Diese Technologien bergen große Risiken und negative Auswirkungen auf Menschen und Ökosysteme und sind vielfach so energie- und ressourcenintensiv, dass es extrem zweifelhaft ist, ob sie jemals dazu in der Lage wären, tatsächlich atmosphärisches CO2 zu reduzieren. Wahrscheinlicher ist, dass das Versprechen dieser Technologien vor allem dazu dient, die Lebenszeit der fossilen Industrie zu verlängern.
  5. Netto-Null-Ziele erwecken den Anschein von ambitionierter Klimapolitik, lenken aber eigentlich nur ab von den tatsächlichen Lösungen, die wir jetzt sofort brauchen: Den Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas, aus der industriellen Landwirtschaft, dem motorisierten Individualverkehr und dem endlosen Anstieg von Wirtschaftswachstum und dem damit einhergehenden Ressourcenverbrauch, und dem Schutz von Ökosystemen auf der Grundlage von gestärkten Landrechten indigener Gruppen und lokaler Gemeinschaften.